Im Zentrum steht die Reise des Landarztes Dr. Garin in ein abgelegenes Dorf. Seine Mission: die Bevölkerung gegen eine mysteriöse Seuche zu impfen, die Infizierte in zombieartige Wesen verwandelt. In Ermangelung anderer Transportmittel macht er sich gemeinsam mit dem Kutscher Perkhusha auf den Weg. Gezogen wird das Schneemobil von fünfzig grotesk kleinen Pferden. Je tiefer sie in die verschneite Landschaft vordringen, desto fantastischer wird ihre Reise. Wie aus einem Märchen entsprungen, begegnen sie erfrorenen Riesen, übernachten bei einer sinnlichen Müllerin mit ebenso winzigem wie bösartigem Ehemann und geraten an eine Dealergruppe, Dopaminierer genannt. Nach Drogentrip und Nahtoderfahrung weiß Garin das Leben ganz neu zu schätzen. Doch immer tiefer geraten sie in den titelgebenden Sturm, und der Weg zur Rettung wird zum surrealen Überlebenskampf. Wie bei Puschkin und Tolstoi trägt Sorokins kunstvoll komponiertes Vexierbild den Titel „Метель“ und erscheint zunächst als Kondensat der russischen Schneesturm-Tradition. Doch die Geschichte mit Landarzt, Kutscher, Zwergpferden und Riesen spielt nicht in der Vergangenheit, sondern in einer bizarren Zukunft, die auf unheimliche Weise unsere Gegenwart spiegelt. Inmitten von Schneesturm, Halluzination und heimwehtrunkenen Träumen verschwimmt für Garin zunehmend die Grenze zwischen Realität und Fantasie. Die Schlittenfahrt, die nur siebzehn Werst gehen sollte, dehnt sich ins Endlose. Am Ende scheitert Garin: Sein Kutscher träumt von einem wunderschönen Schmetterling und erfriert inmitten seiner Pferdchen. Der Arzt wird halbtot von einer Gruppe Chinesen aufgelesen und abtransportiert – ein symbolhaftes Bild geopolitischer Verschiebungen. In Serebrennikovs Inszenierung wird der Schneesturm selbst zur dritten Hauptfigur. Mit einem Ensemble aus Schauspieler:innen und Musiker:innen, Tanz und Live-Projektionen verwandelt er Sorokins Text in ein ekstatisches Bühnenerlebnis – vielstimmig, verführerisch, verstörend. Inmitten eines rauschhaften Whiteouts entfaltet sich ein existenzielles Cabaret zwischen Märchen und Dystopie und führt das Publikum in einen sinnlichen Kontrollverlust. Kirill Serebrennikov zählt zu den wichtigsten internationalen Stimmen des Gegenwartstheaters. Vladimir Sorokin gilt als einer der bedeutendsten russischen Prosaautoren und schärfsten Kritiker des russischen Staates. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine lebt er – wie Serebrennikov – im Exil in Berlin. August Diehl, seit zwei Jahrzehnten eine Größe in der deutschen Film- und Theaterlandschaft, ist aktuell in Serebrennikovs Film „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zu sehen, der in diesem Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte. Eine Koproduktion des Düsseldorfer Schauspielhauses mit den Salzburger Festspielen und Kirill & Friends Company
Quelle: Die Theater Chemnitz