"Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, […] sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an." Mitten im stürmischen Oktober hat ein Reisender in Nordfriesland jene unheimliche und gespenstische Begegnung. Im Wirtshaus hinter dem Deich erfährt er von der tragischen Lebensgeschichte Hauke Haiens: Schon in jungen Jahren setzt sich der wissbegierige Junge mit der Arbeit seines Vaters auseinander, einem Landvermesser und Bauern. Als Hauke Knecht des Deichgrafen wird, kommt seine Chance: Mit neuen Plänen und Ideen weckt er das Interesse des Deichgrafen und dessen Tochter Elke. Doch die anderen im Dorf, allen voran der Großknecht Ole Peters, reagieren mit Skepsis und Missgunst – erst recht, als Hauke Elkes Hand gewinnt, vom Knecht zum Gutsbesitzer aufsteigt und die Nachfolge des alten Deichgrafen antritt. Jung und ehrgeizig setzt er seine visionären Pläne für einen neuen Deichbau in die Tat um. Das Vorhaben gelingt jedoch nur mit Kompromissen, denn Widerstand und Aberglaube der Älteren sind groß. Als Hauke auch noch einen elenden Schimmel kauft, der dem Dorf als unheimliches Spukgespenst erscheint, und sich dem traditionellen Deichopferbrauch widersetzt, verhärten sich die Fronten. Alter und neuer Deich stehen fortan Seite an Seite – bis eine Sturmflut die Bruchnaht aufreißt und Haukes Familie in den Wassermassen begräbt. Theodor Storm (1817–1888) hat den Schimmelreiter in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben und darin alte Sagen und Schauergeschichten wie Der gespenstische Reiter und neuere Forschung verarbeitet. Die Novelle wurde im Herbst 1888 posthum in Buchform veröffentlicht und gehört bis heute fest in den Kanon des literarischen Realismus. – Konfliktreich und unvereinbar lässt Storm das rationale Fortschrittsstreben des Einen und den mystischen Aberglauben der Anderen aufeinanderprallen. Während eine alte Ordnung auseinanderfällt und die sozialen Spannungen zwischen den Generationen in die Katastrophe führen, diskutiert Storm nicht zuletzt auch das ambivalente Verhältnis des Menschen zur eigenen Lebenswelt. Welche Eingriffe lässt die Natur zu? Wie viel Verantwortung tragen wir für unser Handeln – und wer behält am Ende recht?
Quelle: Die Theater Chemnitz